Bund, Länder und Kommunen sind gesetzlich dazu verpflichtet, ihre digitalen Dienste barrierefrei anzubieten. Damit aus dem Anspruch auch Realität wird, gibt es sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene sogenannte Überwachungsstellen. Diese prüfen nicht nur die bereits vorhandenen Angebote, sondern beraten öffentliche Stellen auch bei der Umsetzung der geltenden Vorgaben. INFORM sprach mit Michael Wahl, dem Leiter der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund), über den Stand der Dinge: Wo die größten digitalen Stolpersteine liegen, warum das wichtigste Stichwort „Usability“ lautet und warum digitale Barrierefreiheit eine hessische Spezialität ist.
Interview
Gute Ansätze mit viel Luft nach oben
INFORM: Herr Wahl, als studierter Germanist, Philosoph und Gesundheitsökonom haben Sie zunächst eine journalistische Karriere eingeschlagen. Unter anderem haben Sie in einer Kolumne für das SZ-Magazin sehr eindrücklich darüber geschrieben, wie sich ein blinder Mensch in der Welt der Sehenden fühlt. Wie kann man Barrieren in der IT für Menschen ohne Einschränkungen erlebbar und verständlich machen?
Michael Wahl: Wir stehen vor der Herausforderung, „digitale Bordsteine“ aufzuzeigen und deutlich zu machen, warum es dafür – im übertragenen Sinne – Rampen braucht. Außenstehende bekommen nur wenige sichtbare Rampen mit, wie etwa Texte in leichter Sprache oder Videos mit Gebärdensprache. Der viel größere Teil der Rampen liegt im Verborgenen und wird erst beim Blick in den Website-Code deutlich.
Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, in Schulungen Aufgaben zu stellen, die mögliche Barrieren erlebbar machen. Zum Beispiel „Öffnen Sie den Browser, rufen den Webauftritt einer Tageszeitung auf und klicken Sie eine Schlagzeile an, ohne dabei die Maus zu benutzen.“ Meist scheitern die Teilnehmenden schon an der ersten Teilaufgabe, können sich aber dadurch direkt in die Lage eines sehbehinderten oder motorisch eingeschränkten Menschen hineinversetzen. Noch eindrücklicher wird dieser Feldversuch, wenn man den Bildschirm aus- und den Screenreader anschaltet.
INFORM: Wo begegnen Ihnen persönlich die meisten digitalen Barrieren im Alltag?
Michael Wahl: Ganz klar bei Cookie- Bannern im Internet. Da vergessen viele Betreiber von Webauftritten die Barrierefreiheit – insbesondere in der mobilen Nutzung übers Smartphone. Sie setzen häufig Overlays ein, die sich über die komplette Seite legen und keinen ansteuerbaren Button zum Akzeptieren beziehungsweise Ablehnen haben. Oder bestimmte Bedienfelder in Formularen, die per Screenreader nicht auslesbar sind. Für mich als fast vollständig blinden Menschen ist das wichtig, zum Beispiel beim Ausfüllen des Felds mit dem Geldbetrag bei einer Online-Überweisung. Sonst gehen statt 50 Euro schnell mal 500 Euro vom Konto ab.
INFORM: Die BFIT-Bund prüft seit 2019 die digitalen Angebote von öffentlichen Stellen auf Barrierefreiheit. Was hat sich seither in der Verwaltung getan? Wo steht sie im Vergleich zur freien Wirtschaft?
Michael Wahl: Aufgrund der Berichtspflicht müssen wir den Stand in Sachen Barrierefreiheit gemeinsam mit den Ländern alle drei Jahre an die EU-Kommission melden. Den letzten Bericht haben wir 2021 abgegeben. Damals war der Sachstand nicht besonders gut: Wir haben auf Bundes- und Länderebene kein einziges Objekt gefunden, das komplett digital barrierefrei gestaltet war. Das ist aber auch schwierig, denn sobald irgendwo auch nur ein Alt-Text fehlt, kann man es nicht mehr als barrierefrei bezeichnen.
Was sich seither getan hat? Die Awareness wird immer größer, was sich auch daran zeigt, dass die Anzahl unserer Beratungen steigt. Inzwischen nehmen mehr als 40 Prozent der Stellen, die wir prüfen, im Anschluss auch eine umfassende Beratung in Anspruch. Die verpflichtende Erklärung zur Barrierefreiheit und der Feedback-Mechanismus waren ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Man muss ehrlich sein: Ohne Gesetze würde sich wahrscheinlich sehr wenig tun. Und so gibt es nach wie vor viel Luft nach oben. Das wird aller Voraussicht nach auch das Ergebnis des Berichts sein, den wir 2024 veröffentlichen werden: Es existiert noch immer kein öffentlicher Webauftritt, die komplett barrierefrei ist, und nur wenige, die es annährend sind.
Generell stellen wir fest, dass es umso besser mit der Barrierefreiheit läuft, je größer eine öffentliche Stelle ist. Bei den kleineren Organisationseinheiten ist zwar oft der Wille da, aber es mangelt noch an Ressourcen und Können, wie sie etwa ein Bundesministerium hat. Hier kommt es auf gute Schulungsangebote an. Und natürlich sind die öffentlichen IT-Dienstleister wie die HZD gefragt, schon bei der Grundausstattung und IT-Infrastruktur die Barrierefreiheit mitzudenken.
Für die Privatwirtschaft fehlt es noch an verlässlichen Statistiken. Meiner Einschätzung nach ist die große Masse der Unternehmen noch nicht so weit wie die Verwaltung. Es gibt einzelne Branchen und Verbände, die bereits positiv auffallen, beispielsweise der Banken- oder E-Commerce-Sektor. Was noch fehlt, sind ein gesetzlich umfassend verpflichtender Rahmen, Durchsetzungs- und Überwachungsstellen und Sanktionsmöglichkeiten. In den nächsten zehn Jahren wird dieser Bereich aber vermutlich ein ganzes Stück aufholen.
INFORM: Welche Instrumente und Maßnahmen können Überwachungsstellen denn einsetzen, um die Einhaltung der Vorschriften zur barrierefreien IT sicherzustellen?
Michael Wahl: Die Befugnisse von Überwachungsstellen auf Bundes- und Länderebene beschränken sich zunächst einmal auf öffentliche Einrichtungen. Sanktionsmöglichkeiten gibt es hier aber noch keine. Wir können also keinem Ministerium und keiner Kommune befehlen, ein bestimmtes Dokument bis zum Tag X barrierefrei zu gestalten. Wir können es lediglich einfordern und in den Prüfungsberichten festhalten. In einigen Bundesländern sind solche Berichte öffentlich einsehbar, sodass man nachlesen kann, wie ein Ministerium oder ein Amt abgeschnitten hat. Aber das ist gewissermaßen auch schon das höchste der Strafgefühle. Mehr gibt die Rechtslage nicht her.
Für die Barrierefreiheit wäre es natürlich super, wenn sie einen ähnlichen Status wie der Datenschutz hätte. Da hat die EU mit der DSGVO strenge Maßstäbe gesetzt. Das kommende Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sieht vor, sogenannten Marktüberwachungsbehörden verschiedene Rechte zu geben: zu prüfen, über Nachbesserungen zu verhandeln, im Eskalationsfall Strafen zu verhängen oder sogar Produkte zurückzurufen. Wie die Länder das genau regeln, ist aber noch offen.
INFORM: Bei der Entwicklung von IT-Fachverfahren ist das Thema Barrierefreiheit aufgrund des umfassenden Anforderungskatalogs oft noch ein Dorn im Auge. Mit welchen Argumenten holen Sie Kritiker auf Ihre Seite?
Michael Wahl: Wenn man sich mit Fachleuten unterhält, merkt man schnell: Barrierefreiheit ist meist die Kernkompetenz derjenigen Personen, die sich um Usability kümmern. Denkt man die digitale Barrierefreiheit von Anfang an mit und betreibt ein wenig mehr Aufwand, zahlt sich die Arbeit am Ende doppelt aus: Denn man erhält gute, nutzerzentrierte Produkte und spart außerdem Zeit und Kosten, weil man nicht nachjustieren muss.
Barrierefreie IT fängt bei korrekten Formaten an, setzt sich über Erkennungsmechanismen beim fehlerhaften Ausfüllen von digitalen Dokumenten fort und geht bis zu Aspekten wie Verschlagwortung oder Kontraste. Damit ist am Ende allen geholfen. Schließlich hat jeder schon erlebt, dass auf dem Smartphone bei starker Sonneneinstrahlung kaum noch etwas zu erkennen ist, weil ein Webauftritt oder eine App nur grau in grau gestaltet ist. Da kapitulieren selbst Menschen mit Adleraugen.
INFORM: Welche Art von Unterstützung bieten Sie öffentlichen Stellen zur barrierefreien Gestaltung ihrer digitalen Angebote?
Michael Wahl: Zum einen eine umfassende Beratung. Manche Ministerien begleiten wir schon bei den Ausschreibungen für digitale Angebote, damit sie einen passenden Vergabebaustein für Barrierefreiheit enthalten. Außerdem geben wir mit dem Ausschuss für barrierefreie Informationstechnik zahlreiche Handreichungen und Publikationen heraus, die bei der Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit helfen sollen. Sie enthalten Empfehlungen, wie man ein Word-, Excel- oder PDF-Dokument barrierefrei macht oder welche Communities und Lernplattformen es gibt. Hilfreich ist unter anderem der Leitfaden für die barrierefreie Gestaltung von User-Interface-Elementen, also eine Art Styleguide.
Tipps und Vorgaben für die barrierefreie Gestaltung von Dokumenten, Software, mobilen Apps oder User- Interfaces gesucht? Auf dem Webauftritt der BFIT-Bund sind viele Handreichungen zur Umsetzung digitaler Barrierefreiheit zu finden.
INFORM: Neben der Überwachungsstelle des Bundes gibt es auch in den einzelnen Bundesländern noch Überwachungsstellen. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern?
Michael Wahl: Als ich Anfang 2020 angefangen habe, die BFIT-Bund mit aufzubauen, habe ich relativ schnell gemerkt: Ohne die Länder werden mein Team und ich es nicht schaffen. Hier war und ist der Austausch sehr intensiv. Vor allem zu Beginn waren viele Fragen zu klären, zum Beispiel wie viel Prozent der Prüfungen der Bund macht und wie viel Prozent von welchem Land übernommen werden.
Anders als die hessische Überwachungsstelle, die schon früh gut aufgestellt war, gab es in einigen Ländern anfangs noch gar keine personelle Besetzung. Da hat sich seither einiges getan, und wir gehen die digitale Barrierefreiheit als Gemeinschaftsprojekt an. Das macht schließlich auch Sinn, denn die Aufgaben sind überall die gleichen: überwachen, berichten und beraten. Da wäre es kontraproduktiv, wenn jeder sein eigenes Süppchen kochen würde.
INFORM: Auch mit Hessen stehen Sie in engem Austausch. Welche Kompetenzen bringt das Land in das angesprochene Gemeinschaftsprojekt mit ein?
Michael Wahl: Die hessische Durchsetzungs- und Überwachungsstelle bzw. das Landeskompetenzzentrum Barrierefreie IT treibt das Thema sehr stark voran. Sie gehören gewissermaßen zur Avantgarde. Mit dem Zentrum für blinde und sehbehinderte Studierende in Gießen oder dem Kompetenzzentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in Marburg gab es schon immer eine große Nähe zu der Thematik. So verwundert es auch nicht, dass Hessen das erste Bundesland mit einer Landesbeauftragten für barrierefreie IT war.
Dieser Trend setzt sich fort: So gibt es jetzt in jedem Ressort der hessischen Landesregierung eine beauftragte Person, die für die Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit zuständig ist. Man könnte sagen, digitale Barrierefreiheit ist eine hessische Spezialität. Von solchen etablierten Strukturen können auch andere Länder profitieren, weshalb uns umso mehr daran gelegen ist, das Netz immer dichter zu spannen und die Zusammenarbeit untereinander zu fördern.
INFORM: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Michael Wahl
kurz und knapp
… Erfinder und Entdecker.
… ich Sprache als meinen wichtigsten Alltagshelfer genauso spannend fand wie den Ansatz, möglichst viel mit möglichst wenig Mitteln rauszuholen.
… Motivation.
… Selbstbezogenheit von Menschen.
… echte Kommunikation im eigentlichen Sinne.